Früher hieß es: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Heute lautet die Devise wohl eher: „Alles ist erlaubt; wer korrekt ist, hat selbst Schuld.“ Empathie? Fehlanzeige! Die Gesellschaft verroht – und das in einem Tempo, dass man fast Mitleid mit ihr haben könnte, wenn es Mitleid noch geben würde.

Willkommen in der Ellenbogengesellschaft, wo Rücksicht etwas für Nostalgiker ist. Drängeln, pöbeln, beleidigen – das scheint mittlerweile die Normalität im zwischenmenschlichen Umgang zu sein. Und als ob das nicht schon traurig genug wäre, sind die sozialen Medien der reinste Brutkasten für die Weiterentwicklung dieses „Trends“. Da wird nicht mehr diskutiert, da wird attackiert. Wer im Netz tatsächlich mit Argumenten statt mit Beleidigungen kontert, bekommt als Antwort ein „LMAO“ – oder gleich einen Shitstorm.
Und die Verrohung beginnt früh. So lernen Kinder schneller mit iPad und Co. zu kommunizieren, statt echtes, respektvolles Miteinander; für Jugendliche sind Likes wichtiger als wahre Anerkennung und Erwachsene hetzen von Termin zu Termin, so beschäftigt mit sich selbst, dass ein einfaches „Danke“ schon zu viel verlangt scheint.

Natürlich, es gibt sie noch, die Menschen mit Anstand. Aber die müssen sich inzwischen fast schon dafür rechtfertigen, Knigge zu kennen. So wird Freundlichkeit mit Dummheit verwechselt, Rücksichtnahme als Schwäche ausgelegt. Und warum? Weil sich rücksichtsloses Verhalten heute einfach mehr auszahlt als Fairplay. Wer am lautesten schreit, bekommt die Aufmerksamkeit. Wer andere am besten runterputzt, ist der Macher. Wenn wir so weitermachen, ist Hopf und Malz verloren!

Es ist also an der Zeit, wieder das in den Mittelpunkt zu rücken, was uns als Menschen ausmacht: Empathie, Respekt – und die Fähigkeit, einander zuzuhören! Ein einfaches „Bitte“ oder „Danke“, ein Moment echter Aufmerksamkeit; eine Diskussion ohne Beleidigungen – kleine Gesten, die Großes bewirken können. Wir sollten weniger nach Reichweite als nach realer Verbindung streben. Denn wenn wir nicht aufpassen, leben wir bald in einer Welt voller Stimmen, aber ohne echtes Gespräch.

Die Autorin

Judith Lorenzon
Judith LorenzonRedakteurin